Die Gesellschaft braucht die Hilfe der Kirchenriten nicht mehr, um tragische Erlebnisse zu verarbeiten. Während in der Woche nach dem Unglück fast ständig hunderte von Trauernden die Unglücksstelle besuchten und um sie herum eine Wandzeitung und viele Trauersymbole hinterließen, hatten die offiziellen Kirchenvertreter auf der schlecht besuchten offiziellen Trauerfeier am Samstag danach nur ihre routiniert dargebotenen Glaubenssätze zu bieten.
Viel weniger Besucher als erwartet
Die Kameraregie des WDR schaffte es bei der ARD-Übertragung des Gottesdienstes aus der Duisburger Salvatorkirche nicht immer, die leeren Reihen aus dem Bild auszusparen, die in der 500 Menschen fassenden Kirche geblieben waren. Wer von den unterschiedlichen eingeladenen Gruppen – Angehörige, VIPs, Rettungskräfte – diese reservierten Plätze nicht in Beschlag genommen hatte, blieb offen. Im Duisburger MSV-Stadion versammelten sich zur Live-Übertragung der offiziellen Trauerfeier nur 2.600 Menschen. Wie viele es in den anderen Kirchen waren, blieb offen. Im Vorfeld waren noch „zehntausende“ Besucher erwartet worden, von der Polizei Duisburg gar bis zu 100.000 – wahrscheinlich aufgrund der Erfahrungen der ganzen Woche an der Unglücksstelle am Tunnel der Karl-Lehr-Straße.
Riten und Anteilnahme – selbst organisiert und wirkungsvoll
Ganz im Gegensatz dazu die von der Basis organisierte Trauer an der Unglücksstelle. Im Laufe der Woche wuchs dort eine von vielen einzelnen Besuchern gebaute Gedenkstätte. Ein Meer von Kerzen und Blumen umrahmt selbst gemalte Bilder, Fotos von Opfern, Gedichte, Texte, Pamphlete, Plüschtiere, Schals und Fahnen und Plakaten. An den Wänden des Tunnels entsteht eine von der Bevölkerung selbst geschriebene Wandzeitung, die der Wut, der Trauer, der Empörung und den Anklagen auf unterschiedliche Weise Ausdruck gibt. Ernst studieren Besucher alles, was dort steht, hängt und liegt. Gespräche miteinander über das was war. Ein traumatisierter Loveparade-Besucher, mit dem ich gesprochen habe, freute sich darüber, dass es diesen Ort gibt – und dass er dort Menschen fand, die ihn umarmten, wenn er wieder einmal zusammenzubrechen drohte.
Trauern ohne Redenschwingen
800 Menschen nahmen am Mittwochabend nach dem Unglück an einem Trauermarsch vom Unglückstunnel zum MSV-Stadion teil, wo das Testspiel zwischen Bochum und Duisburg stattfand. Auch diesen Ausdruck der Trauer hatte nicht von irgendein Komitee oder Vereinsvorstand organisiert, sondern er war von unten gewachsen: Fans von MSV-Duisburg hatten sich ab Montag in wachsender Zahl über Internetforen zu der Trauerkundgebung verabredet, bis die Medien über den Plan berichteten, erzählt Duisburg-Fan Bruno Gottschlich, einer der Initiatoren. Dass hierbei keine Reden gehalten wurden, vermissten die Teilnehmer des Trauerzuges nicht. Auch der MSV, der an diesem Abend ein „stilles Spiel“ ohne Aufheizphase mit Musik, Spielen und Interviews veranstaltete, nahm die Hilfe der Experten von der Kirche nicht in Anspruch. Sportdirektor Hübner: „Das machen wir selbst.“
Ein bescheidener Notfallseelsorger…
Im Tunnel lief am selben Abend ein „Notfall-seelsorger“ in seiner Leuchtweste auf und ab – er schien nicht besonders stark in Anspruch genommen zu werden. Notfallseelsorger gehören in solchen Fällen zu den meistinterviewten und bestakzeptierten Berufen; auch WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn bezeichnete ihre Arbeit im „ARD-Brennpunkt“ als „lebensnotwendig. Dieser Pfarrer allerdings war nicht pressegeil. Mein Hörfunkmikro schob er zur Seite, bat mich, doch die anderen Menschen an der Unglücksstelle zu befragen. Danke für diese Bescheidenheit.
.. und ein Schneider mit einnehmendem Wesen
Bei der Trauerfeier in der Salvatorkirche hingegen sprachen zuverlässige Kirchenkader die Gebete und lasen die Bibeltexte. Und dort ließ der oberste Repräsentant der Protestanten, Präses Nikolaus Schneider, Bescheidenheit vermissen. Auch wenn‘s langweilig ist, weil Pfarrer schon oft über die „theodizäische Frage“ („Warum lässt Gott das zu?“) gesprochen und gepredigt haben – es lohnt sich manchmal, der theologischen Banalität näher zuzuhören. Vermessen sprach Schneider ständig vom „Wir“ und gemeindete die ganze Welt in seinem protestantischen Eifer ein. „UNSER Gottvertrauen … wollen WIR nicht einfach preisgeben“, postuliert er, und spricht dann das aus, was er persönlich für tröstend hält: „Der Tod ist nicht das letzte Wort. UNSER Tod auf der Erde ist gleichzeitig das offene Tor zu Gottes Reich. Deswegen können WIR auch sagen: UNSERE Toten sind nicht tot. Der Totentanz wandelt sich zu einem Fest unzerstörbaren Lebens.“ Wer‘s glaubt, dem mag der Verweis auf das Jenseits durch einen Vertreter der angeblich so diesseitigen Protestanten vielleicht helfen …
Differenzierender Co-Zelebrant
Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck konnte immerhin etwas besser differenzieren als sein evangelischer Co-Zelebrant. Es ist offenbar schon bei Overbeck angekommen, dass nicht alle dasselbe glauben, was er glaubt. „MIR als Christ hilft es“, den Psalm 139 zu zitieren, meint er. „Das möchte ich Ihnen allen sagen.“ Aber so ganz kann auch er sich die Vereinnahmung jeglicher menschlicher Anteilnahme für religiöse Zwecke nicht verkneifen. Die für die 21 Toten angezündeten Kerzen sind für ihn zwar ein „Zeichen menschlicher Liebe“, aber einer „die auf Gott verweist.“
Eine Ministerpräsidentin wird persönlich
Hannelore Kraft hingegen, die neue NRW-Ministerpräsidentin, die nach dem Abschlusssegen der Kirchenoberen (also außerhalb des Gottesdienstes) auch sprechen darf, hat das ganze Verweisen auf das Jenseits und auf ein höheres Wesen nicht nötig. Sie spricht selten WIR oder UNS und ist ganz bei den Trauernden. Sie sagt: „Ich fühle selbst, wie schwer es ist, sich nach einer solchen Tragödie wieder dem Leben zuzuwenden.“ Und mehr als die verblendeten Funktionschristen bringt sie mit ihrer kaum verhüllten Kritik an Geltungssucht und Profitgier die Sache mit dem Zitat eines Vaters auf den Punkt: „Der grausame Tod seiner Tochter kann im Nachhinein noch einen Sinn bekommen, wenn der Tod uns mahnt, unser Wertesystem zu überdenken. Der Mensch, sein Wohlergehen und seine Sicherheit müssen wieder Leitlinie unseres Handelns sein, vor allen anderen Motiven.“
Da ist Nikolaus Schneider nicht drauf gekommen, vor lauter Jenseits-Rhethorik. Vielleicht sollte er so was mal in seinen Redebausteinkasten übernehmen, um seine Theologenroutine doch ein wenig attraktiver zu machen. Das allerdings fällt allen schwer, die es verlernt haben, für sich selbst zu sprechen statt für eine Institution.