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Wann der Klerus lügt

Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, mit Krummstab in modernem Design

Erzbischof Reinhard Marx wird hier nicht der Lüge bezichtigt, aber er trägt auch einen Hirtenstab zum Zeichen, dass er die Laufrichtung für seine Schafherde kennt und sie "gegen die Verfälscher, gegen die Führungen, die Verführungen" schützen kann. Foto: Dieter Schmitt

Wenn es um die Verteidigung der Institution Kirche und des Papstes geht, ist sich der katholische Klerus offensichtlich manchmal keine Lüge zu schade. Besonderes, wenn es gegen Kirchenkritiker geht, nehmen sie es anscheinend mit dem achten Gebot nicht mehr so genau und geben gerne mal „falsches Zeugnis“. So zum Beispiel Bernhard Speringer, Priester des „Orden der Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz“ aus der Nähe von Innsbruck. In einem auch auf www.kath.net wiedergegebenen Leitartikel für das Schweizerisch Katholische Sonntagsblatt legt er Ulli Schauen, dem Autor des Kirchenhasser-Brevier Worte in den Mund, die dieser nie gesagt hat – um anschließend auf den „Pseudojournalisten“ einzuprügeln. (Natürlich ist das mit dem Prügeln hier nur metaphorisch gemeint ;-).

Es geht um die Predigt von Papst Benedikt XYI zum Ende des Priesterjahres am 11. Juni 2010.In seiner Ansprache bittet der Papst lobenswerter weise um Vergebung für den Missbrauch in der Kirche. Andererseits macht er bezeichnenderweise nicht seine Kirche sondern letztlich den „bösen Feind“ – also den Satan – dafür verantwortlich, dass die Skandale ausgerechnet im Priesterjahr ans Tageslicht kamen. Indirekt sind also die Überbringer der schlechten Nachrichten dem „Reich des Bösen“ zuzurechnen. Joseph Ratzinger bekräftigt außerdem in seiner Ansprache die Hirtenrolle der Bischöfe und Priester und fordert sie ausdrücklich auf: „Auch die Kirche muss den Stock des Hirten gebrauchen, mit dem sie den Glauben schützt gegen die Verfälscher, gegen die Führungen, die Verführungen sind. Gerade der Gebrauch des Stockes kann ein Dienst der Liebe sein.“

Ich habe in der ZDF-Talksendung „Markus Lanz“ am 26. August 2010 anhand dieser Stockmetapher darauf hin gewiesen, dass die religiöse Überhöhung der Rolle der „Hirten“ in der katholischen Kirche problematisch ist und Missbrauch begünstigt. Wer andere als blökende Schafsköpfe, sich selbst hingegen in der besserwissenden Hirtenrolle und als Vertreter von Gottes Weisheit sieht, der bringt seine Schäfchen leichter in Abhängigkeit – das System begünstigt auf diese Weise Missbrauch. Die doppelte Abhängigkeit kann in Institutionen wie Heimen und Internaten schlimme Folgen haben.

Auf so eine Aussage lässt sich wohl schlechter einschlagen als auf das, was der Kreuzordenspater Speringer daraus macht: Ulli Schauen, schreibt er, habe in der Rede des Papstes „die Aufforderung des Papstes an die Priester“ gesehen, „die Prügelstrafe zu gebrauchen“. Mitnichten. Dann flicht Speringer noch eine Zwischenfrage seines geistigen Bruders, des Salzburger Weihbischofs Andreas Laun ein, die dieser gar nicht gestellt hat sowie eine Antwort, die ich darauf nicht gegeben habe. Dies deutet darauf hin, dass Laun ihm von der Diskussion aus dem Gedächtnis falsch berichtet hat – nehmen wir das zu Gunsten der beiden geistlichen Herren einmal an. Dummerweise nur für Speringer lässt sich im Internetzeitalter ein solcher Leitartikel leicht als fälscherische Unwahrheit entlarven. Niemand braucht das Gegenteil einfach nur behaupten. Es steht alles online: Speringers Artikel, ein Videoausschnitt der Sendung mit dem betreffenden Dialog sowie auch die Predigt des Papstes zum Abschluss des Priesterjahres am 11. Juni auf dem Petersplatz in Rom. Deshalb hier die betreffenden Zitate und die dazu gehörenden Links.



Bernhard Speringer, ORC laut Kath.net im Schweizerisch Katholischen Sonntagsblatt am 1. 9.2010:

„Wie aber interpretiert der „Kirchenhasser“ Schauen – er bezeichnet sich auf seiner Website selbst so – diese Worte (des Papstes)? Er sieht darin eine „Aufforderung des Papstes an die Priester, die Prügelstrafe zu gebrauchen.“ Auf die Frage von Bischof Laun, der ebenfalls an der Diskussion teilnahm, ob er das wirklich ernst meine, sagte Schauen, dass der Papst das natürlich nicht explizit gesagt hat, aber jeder wüsste ja, was damit gemeint ist…

ZDF-Sendung „Markus Lanz“ vom 26. August 2010:

Lanz: „Herr Schauen, Sie sagen, der Papst hat sich, wenn es jetzt um die Missbrauchsfälle der letzten Zeit geht, nicht entschuldigt, er hat um Vergebung gebeten. Ich meine, das so verstanden zu haben, dass das auch die Opferseite ausdrücklich wünscht, dass man um Vergebung bittet, weil das Dinge sind, für die man sich nicht entschuldigen kann. Weil sie unentschuldbar sind. Sie sagen, der Papst hat sich nicht entschuldigt.“

Schauen: „Nein, das werfe ich ihm nicht vor. Ich finde das gut, dass er um Vergebung gebeten hat, aber man muss diese Rede, die er gemacht hat, am 10. oder 11. Juni, mal ganz lesen, und das ist sehr interessant. Sie ist an Priester gerichtet, zum Ende des Priesterjahres. Die ist an Priester gerichtet und ihre Rolle. Und die werden ja immer Hirten genannt. Hirten – und das andere, das sind dann die Schafe, die nicht so immer Bescheid wissen. Die müssen von den Hirten geleitet werden, irgendwo hin, und die Hirten wissen Bescheid. Und dafür haben Sie dann einen Stab und einen Stock. Und in der gleichen Rede hat der Papst die Hirten aufgefordert, auch mal den Stock zu gebrauchen. Und das ist das Dilemma. Erst mal: Stock gebrauchen ist Missbrauch, auch wenn das jetzt im übertragenen Sinne gemeint ist, mal kurz an die Hinterbacken des Schafes, ja, aber es geht eben in Richtung Gewalt, und es zeigt dieses Höhergestellte der Priester, was eben in Abhängigkeit bringt, gerade in Institutionen wie Internaten, wo dann das Ganze irgendwo…

Lanz: „Sie unterstellen dem Papst tatsächlich die Aufforderung zur Prügelstrafe?“

Schauen: „Ich sage, das System wird der Papst auch …“

Lanz: „In einem metaphorischen Sinne, aber das macht es ja nicht besser.“

Schauen: „Ich sage, das kann dazu führen, ich sage, das begünstigt auch Gewalt. Und es begünstigt, und das sieht man ja auch an den ganzen Missbrauchsfällen, Gewalt, wenn da eine Überhöhung der Rolle eines Lehrers noch mal stattfindet, indem der auch noch Nonne – Lehrerin in dem Falle – oder Ordensbruder ist, und dann auch noch theologisch begründen kann, warum die Kinder jetzt da malträtiert werden müssen, und so war das 1950 bis 1990 …

(hier unterbricht Markus Lanz und leitet zu Bischof Laun über – Schauen kommt im Rest der Sendung nicht mehr zu Wort).

Papst Benedikt XVI: Aus der Predigt zum Ende des Priesterjahres am 11. Juni 2010 auf dem Petersplatz in Rom.

„Der Hirte braucht den Stock gegen die wilden Tiere, die in die Herde einbrechen möchten; gegen die Räuber, die sich ihre Beute suchen. Neben dem Stock steht der Stab, der Halt schenkt und schwierige Passagen zu durchschreiten hilft. Beides gehört auch zum Dienst der Kirche, zum Dienst des Priesters. Auch die Kirche muss den Stock des Hirten gebrauchen, mit dem sie den Glauben schützt gegen die Verfälscher, gegen die Führungen, die Verführungen sind. Gerade der Gebrauch des Stockes kann ein Dienst der Liebe sein. Heute sehen wir es, dass es keine Liebe ist, wenn ein für das priesterliche Leben unwürdiges Verhalten geduldet wird. So ist es auch nicht Liebe, wenn man die Irrlehre, die Entstellung und Auflösung des Glaubens wuchern lässt, als ob wir den Glauben selbst erfänden. Als ob er nicht mehr Gottes Geschenk, die kostbare Perle wäre, die wir uns nicht nehmen lassen. Zugleich freilich muss der Stock immer wieder Stab des Hirten werden, der den Menschen hilft, auf schwierigen Wegen gehen zu können und dem Herrn nachzufolgen.“

… (an früherer Stelle:)

„Es war zu erwarten, daß dem bösen Feind dieses neue Leuchten des Priestertums nicht gefallen würde, das er lieber aussterben sehen möchte, damit letztlich Gott aus der Welt hinausgedrängt wird. So ist es geschehen, daß gerade in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern bekannt wurden – vor allem der Mißbrauch der Kleinen, in dem das Priestertum als Auftrag der Sorge Gottes um den Menschen in sein Gegenteil verkehrt wird. Auch wir bitten Gott und die betroffenen Menschen inständig um Vergebung und versprechen zugleich, daß wir alles tun wollen, um solchen Mißbrauch nicht wieder vorkommen zu lassen.“

Rücktritt aus Hochmut (2): Maria Jepsen

Maria Jepsen, Foto: Pittkowski / Nordelbische KircheEs ist fast drei Wochen her, aber die Rücktrittsbegründung der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen geht mir nicht aus dem Kopf: „“Meine Glaubwürdigkeit wird angezweifelt. Von daher sehe ich mich nicht in der Lage, die frohe Botschaft so weiterzusagen, wie ich es bei meiner Ordination und bei meiner Bischofseinführung vor Gott und der Gemeinde versprochen habe.“ Lassen wir mal dahin gestellt, ob sie wirklich vor elf Jahren Missbrauchsfälle in ihrer eigenen Kirche nicht nachdrücklich genug verfolgt hat. Da steht Aussage (allerdings eine eidesstattliche Erklärung) gegen Aussage. Es wäre auch in der evangelischen Kirche nicht das erste  und einzige Mal, dass zugunsten der weißen Weste der Organisation ein Skandal unter den Tepich gekehrt wird. Und glaubwürdig möchten wir alle sein, wenn wir sprechen. Aber warum ist der reine Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Bischöfin schon so ein Makel, dass sie sich zum Rücktritt entschließt? Und warum sagt sie nicht: Kann sein, dass ich versagt habe – und damit kann ich in diesem Amt nicht weiter arbeiten?

Die Antwort: Es geht um den Hochmut einer Kirche, die selbst Makellosigkeit und Reinheit nicht nur anstrebt, sondern von sich selbst behauptet. Diese Institution predigt zwar anderen: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“.  Das aber ist ein Lippenbekenntnis. Sich selbst sehen diese pharisäischen Führungspersönlichkeiten anders. Ich bin (und sei es Dank der Gnade etc. pp.) mehr oder weniger ohne Sünde, oder wenigstens: auf dem Pfad der Rechtfertigung durch den Glauben beschäftige mich ständig mit meiner Schuld, sagen sie sich. Und weil das so ist, erlauben sie sich selbst, „Steine zu werfen“. Zu mahnen, zu predigen – und dabei mit Selbstzweifeln allenfalls zu kokettieren. Solche Pharisäer können mit dem Makel des Versagensverdachtes nicht weiter arbeiten. Deshalb hat Maria Jepsens Rücktritt etwas außerordentlich Hochmütiges an sich.

Noch im Abtreten wirft sie den nächsten Stein. Sie flicht in ein Psalmzitat eine Anklage ein. „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg“ – an diesem Psalmvers, meinem Konfirmationsspruch, orientiere ich mich, trotz der Äußerungen in den Medien, die mir Schlimmes unterstellen.“ Soso, die Medien sind es wieder einmal. Köhler, Mixa, Käßmann, Jepsen – immer sind die Medien verantwortlich, und nicht das mögliche Fehlverhalten, über das sie berichten. Es ist verwunderlich: Zur Mimose wird hier eine Frau, die tough genug war, sich als erste lutherische Bischöfin der Welt durchzusetzen – und das in Hamburg, wo es bis 1979 gedauert hat, dass die weiblichen Pastorinnen wirklich gleichberechtigt arbeiten durften (s. Kirchenhasser-Brevier, Seite 248).

Da möchte man meinen,  die Vorwürfe sind berechtigt,und die tönerne Rücktrittsbegründung bloß vorgeschoben.

Friedrich Tillmann – ein Euthanasie-Christ

Buchcover: Ich habe aus Mitleid gehandelt" über Friedrich Tillmann, von Klaus SchmidtAm 20. Mai 2010 stellt der Kölner Autor Klaus Schmidt die Biografie eines wahren Christen und Nazis vor, den sein christliches Menschenbild nicht daran hinderte, die Tötung von angeblich „lebensunwertem Leben“ zu organisieren.

Klaus Schmidt

„Ich habe aus Mitleid gehandelt“

Der Kölner Waisenhausdirektor und
„Euthanasie“-Beauftragte Friedrich Tillmann (1903-1964)

Metropol Verlag
Berlin 2010 (Mai)
ISBN 978-3-940938-71-8.
19,00 Euro
Das Buch bei Amazon bestellen
Der christlich geprägte Nationalsozialist Friedrich Tillmann, der in Köln als Waisenhausdirektor jüdische Kinder schützte, wirkte 1940/41 in Berlin als Büroleiter bei der geheimen „Aktion T4“ mit. Der ersten zentral organisierten NS-Massenmordaktion fielen in Heil- und Pflegeanstalten mehr als 70 000 Kranke und Behinderte zum Opfer.

Nach 1945 arbeitete Friedrich Tillmann unbehelligt als Heimleiter in Opladen, Wolfsburg und Castrop-Rauxel. Die Enthüllung seiner Berliner Tätigkeit traf die Öffentlichkeit 1960 „wie ein Blitz aus heiterstem Himmel“ (Westfälische Rundschau). 1964 fand der wegen Beihilfe zum Krankenmord Angeklagte kurz vor Prozeßbeginn durch den Sturz aus einem Kölner Hochhaus den Tod. Klaus Schmidt präsentiert aufgrund von Archivmaterial und Kontakten mit Tillmanns Sohn ein Buch, das alle wesentlichen Aspekte von Tillmanns Leben im Kontext der Zeit berücksichtigt.

Klaus Schmidt, *1935, Theologe und Historiker, schrieb politische Sachbücher und Biografien, u.a. über den 1848er Armenarzt Andreas Gottschalk und den katholischen Arzt Franz Vonessen, der Mitarbeit bei NS-Zwangssterilisationen verweigerte (Greven Verlag Köln).

Presse-Vorstellung: Dienstag,18. Mai 11 Uhr im NS-Dokumentations-Zentrum
durch dessen Direktor Dr. Werner Jung.

Lesung/Vortrag: Donnerstag, 20 Mai, 20 Uhr im NS-Dokumentations-Zentrum

NS-Dokumentationszentrum
Appellhofplatz 23-25
50667 Köln
0221/221-26338
www.nsdok.de
nsdok /klammeraffe/ stadt-koeln.de

Hier ist das Inhaltsverzeichnis dieses Buches und die Einleitung dazu:

Inhalt

Einleitung………………………………………..……………………………………………2

I. Vom Jugendführer zum Waisenhausdirektor 4
Werdegang in (Köln-)Mülheim………………..………………………………………………….4
Völkische und Bündische Jugendarbeit………………………………………………………..5
Der Vormarsch der NSDAP und die „Machtergreifung“…………………………..………….8
Zwischen Kirche und Partei – Tillmanns Engagement für die Waisen………………………11

II. Vorstufen der „Euthanasie“
„Lebensunwertes Leben“…………………………………………………………………… 15
Propagandisten der „Eugenik“………………………………………………………………..17
Die Zwangssterilisation der „Ballastexistenzen“…………………………………………….18

III. Der geheime Auftrag 20
Büroleiter der „Aktion T4“……..……………………………………………………………. 20
Religiöse „Gnadentod“-Ideologen……………………………………………………………24
Der Wirkungskreis des Schreibtischtäters…………………………………………………….26
Das Schweigen der Reichsjuristen……………………………………………………………32
Proteste gegen die „Euthanasie“-Aktion..…………………………………………………….33

IV. Letzte Kriegsjahre 38
Schutz und Evakuierung der Kinder…………………………………………………………..38
Zuflucht im Kloster Steinfeld..…………………………………….…………………………40
Kriegdienst und Geheimauftäge………………………………………………………………43

V. Zwischen Entnazifizierung und Strafverfolgung 44
Entnazifizierung in Köln………………………………………………………………………44
Solidarische Sorge……………………………………………………………………………45
Entlastungszeugnisse…………………………………………………………………………46
Urteile in Ärzteprozessen………………………………….….………………………………49
Die Schatten der Vergangenheit………………………………………………………………52
Das zähe Ringen um die Entnazifizierung………… …………..……………………………57

VI. Eine neue Existenz 60
Zwischenstation Opladen…………………..…………………………………………………60
Wolfsburg………………………………………………………………………………………63
„Schlußstrich“-Profiteure……………………………………………………………………….64
Im Fadenkreuz der Ermittler…….……..…………….…………………………………………68

VII. Die Anklage 75
Die Verhaftung………………………………………………………………………………..75
Das Ringen um Haftverschonung….…………………………………………………………80
Die Mord-Anklage…………………………………………………………………………….83
Das Ende………………………………………………………………………………………86

Die Schonung der Täter und die Missachtung der Opfer……………………………………..88 Gedenken………………………………………………………………………………………..93

Literatur……………………………………………………………………………………..100
Personenregister……………………………………………………………………………..106
Ortsregister………………………………………………………………………………….107
Abkürzungen……………………………………………………………………………….109

Einleitung

Friedrich Tillmann, Handwerkersohn aus (Köln-)Mülheim, christlich motiviert und sozial engagiert, war bis zum Ende des „Dritten Reichs“ anfänglich begeistertes, später unbequemes Mitglied der NSDAP und Waisenhausdirektor in Köln. Bis in die Nazizeit hinein pflegte der von Bündischer Jugendarbeit Geprägte internationale Kontakte. Er bewahrte jüdische Waisenkinder und einen „Negermischling“ vor dem Zugriff des NS-Regimes und wehrte sich erfolgreich gegen die Entlassung der Nonnen und die Entfernung von Kruzifixen aus dem Waisenhaus in Köln-Sülz. In den 1950er Jahren wurde er Leiter eines Berglehrlingsheims in Castrop-Rauxel und Mitglied einer katholischen Pfarrgemeinde, deren Kirchbau er förderte.
Zugleich unterstützte dieser fürsorgliche Waisenhausdirektor 1940 und 1941 als nebenamtlicher Büroleiter einer Berliner „Euthanasie“-Zentrale NS-Ärzte, die Geisteskranken „den Gnadentod gewährten“. Eine geheime Staatsaktion. Mehr als 70 000 Patienten und Patientinnen psychiatrischer Anstalten fielen zwischen 1940 und 1941 der ersten zentral organisierten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus zum Opfer. Nach Protesten aus der Bevölkerung wurde die Aktion zwar offiziell im Sommer 1941 beendet, aber danach dezentral im Osten weitergeführt. In deutschen Anstalten und Kliniken mordete man ohne Gas insgeheim weiter. Nach Schätzungen wurden bis Kriegsende mehr als 200 000 Patientinnen und Patienten durch Gas, Medikamente, Nahrungsentzug oder Injektionen getötet.
Danach wurden in den Nürnberger Prozessen einzelne Haupttäter verurteilt, viele andere tauchten unter. Erst als 1959 ein Hauptverantwortlicher, der „Obergutachter“ Professor Dr. Werner Heyde alias Sawade entlarvt wurde, kamen erneut Prozesse in Gang.
Auch Friedrich Tillmanns Vergangenheit wurde nun aufgedeckt. Die Nachricht seiner Verhaftung im Juli 1960 schlug wie eine „Bombe“ ein, kam „wie ein Blitz aus heiterstem Himmel“.1 „Es ist ein und derselbe Friedrich Tillmann“, so die Westfälische Rundschau, „dieser anerkannt qualifizierte Fachmann auf dem Gebiet der Fürsorgearbeit, dieser Leiter der Gruppe ‚Heimerzieher’ in der Aktionsgemeinschaft Jugendschutz, dieses Mitglied des Kirchenvorstandes von St. Barbara.“2 Im Februar 1964, sechs Tage vor Prozesseröffnung, stürzte er aus dem achten Stock eines Kölner Bürohauses, einen Tag später nahm sich Werner Heyde im Gefängnis das Leben.
Wie konnte ein sozial engagierter und christlich geprägter Mensch wie Friedrich Tillmann diesen Weg gehen? Von der städtischen Fürsorge für Waisenkinder zur wenn auch nur kurzzeitigen Mithilfe bei NS-Krankentötungen – und wieder zurück in soziale Arbeit? Eine Analyse seiner Worte und Taten im Kontext der Zeit, in der er lebte, kann helfen, Antwort auf diese Frage zu finden.
Längst vor dem „Dritten Reich“ wurde über „lebenswertes“ und „lebensunwertes Leben“, über Sterbehilfe und „Gnadentod“ heiß diskutiert. Auch nach 1945 sprachen sich viele Menschen noch für „Euthanasie“ aus. Zehn Jahre nach Tillmanns und Heydes Tod führte das Allensbacher Institut eine repräsentative Umfrage durch. Die Frage lautete: „Es gibt ja immer wieder Menschen mit schweren geistigen Schäden, die praktisch dazu verurteilt sind, das ganze Leben hinzudämmern. Deshalb hört man ja manchmal, es wäre das Beste, solchen Kranken ein Medikament zu geben, damit sie nicht mehr aufwachen. Wären Sie dafür oder dagegen, daß Ärzte in einem solchen Fall das Leben der Kranken beenden können?“3 38 Prozent der Befragten waren dafür. Bis in die Gegenwart führen ähnliche Umfragen sogar zu noch höheren Prozentzahlen.4
Grenzen werden respektiert oder missbraucht. Die Frage nach der Grenze des Erlaubten ist uralt und bleibt hochaktuell. Eine Krankenschwester setzt einem ahnungslosen alten Patienten eine tödliche Spritze. Die Öffentlichkeit reagiert entsetzt, denkt an Euthanasie.
Vorschnelle Vergleiche sind unangebracht, doch Erinnerungsarbeit kann die Bereitschaft und die Fähigkeit verbessern, in Grenzsituationen verantwortungsvoller zu handeln.
Im Brennpunkt solchen Gedenkens gebührt den Opfern die größte Aufmerksamkeit, danach auch den Tätern. Die Zwangssterilisierten und nachfolgend die getöteten angeblich oder wirklich unheilbar Geisteskranken gehören neben homosexuell lebenden Menschen, Kommunisten und Sinti und Roma zu einer fast vergessenen Opfergruppe aus der NS-Zeit. Doch auch die für die meisten Zeitgenossen unangenehme Erinnerung an die Täter ist unverzichtbar. Sie fielen in einer vom mörderischen Wahn gezeichneten Zeit aus ihrem „normalen“ Leben heraus und fielen zugleich ihrer Begeisterung über die Erfolge des „Führers“ und seiner Gefolgsleute anheim, die Widerstandskraft gegen die Unmenschlichkeit des totalitären Systems kaum aufkommen ließ. Mediales Interesse konzentriert sich nach wie vor auf Hauptkriegsverbrecher – allen voran den „Führer“. Die für die „Euthanasie“ von Geisteskranken im eigenen Land Verantwortlichen und die einst gegen sie angestrengten Prozesse sind fast nur noch Fachleuten bekannt5 – und von den Opfern spricht fast niemand mehr. Nicht zuletzt ihnen soll mit diesem Buch die Aufmerksamkeit gewidmet werden, die ihnen außerhalb ihrer Familien und mancher Gedenkstätten zumeist versagt wird. Auch in diesem Zusammenhang gilt: Jede neue Biographie, jeder authentische Bericht aus der NS-Zeit kann Menschen erreichen und schon deswegen „ein Gewinn für die politische Kultur der Gegenwart und das politische Bewußtsein kommender Generationen“ sein.
Nichts wäre ungerechter, als Friedrich Tillmanns Biographie auf die Zeit seiner Tätigkeit in der Berliner „Euthanasie“-Zentrale zu reduzieren. Dies ist in den bisherigen, meist kurzen Erwähnungen seines Lebens fast ausnahmslos der Fall. Nur eine möglichst genaue Erfassung seiner gesamten Existenz kann seine verhängnisvolle Grenzüberschreitung begreiflich machen. Unverzichtbar waren für mich dabei Recherchen im Hessischen Hauptstaatsarchiv, im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und im bis 2008 noch unzerstörten Kölner Stadtarchiv.
Friedrich Tillmanns Sohn Ekkehart hat mit einer Vielzahl von Unterlagen und familiären Erinnerungen das Zustandekommen dieser Biographie wesentlich unterstützt. Zwei Freunden habe ich besonders zu danken: Dr. Damian van Melis für hilfreiche Informationen und Anregungen, Dr. Peter Klein für sorgfältige Lektüre des Textes.
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Missbrauchsopfer – eine bischöfliche Verwechslung

Reliefbild

Foto: Christa Richert

„Jetzt erleben wir wieder eine Kampagne gegen die Kirche“, hat der Regensburger Bischof Müller in seiner gestrigen Sonntagspredigt gesagt – und die Kampagne mit antikirchlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten verglichen. Wieder mal sieht er nicht die Opfer als Opfer, sondern seine eigene Kirche. Den Medien gehe es darum, die Glaubwürdigkeit der Kirche zu erschüttern, sagte Herr Müller laut Welt.
Der Bischof weiter:

„Solche, die um jeden Preis die katholische Kirche um ihren guten Ruf bringen wollen, haben sich die „Regensburger Domspatzen“ als Opfer ausgesucht. Ein Glanzstück des Bistums Regensburg soll in den Dreck gezogen werden“.

Tatsächlich sind „Regensburger Domspatzen“ das Opfer. Aber nicht die bösen Medien machen sie dazu, sondern der Klerus, dem sie als Sängerknaben anvertraut sind.
Und dann redet der Bischof in einer bemerkenswerten Rhethorik das Thema klein und verweist auf das Thema der Sexsklavinnen über das sich angeblich niemand aufregt.

Es lohnt sich, den Duktus des Hirten einmal zu inhalieren:

„Wenn es um Fälle geht innerhalb der Kirche vor 50 Jahren, da sind alle Seiten voll seit 3 Monaten. Aber wenn es um Menschen geht, die jetzt augebeutet und entwürdigt werden, die zu Lustobjekten heruntergewürdigt werden, da fehlt der Aufschrei. Und da ist es – wie 1941 – nötig, dass unsere Frauen aufschreien und bekennen, auch wenn die Umgebung herum nichts hören will und das nicht für aktuell hält.“

Die Politiker sollten ihre Stimme erheben, fordert Müller,

um einem solchen schandbaren Treiben das Handwerk zu legen

Mit „schandbarem Treiben“ meinte er nicht den Kindesmissbrauch in der Kirche.
Er meinte die angebliche Kampagne der „Kirchenfeinde“.

Link:
Auzüge aus der Predigt auf der Website des Bistums Regensburg

ER missbraucht nie – aber seine Leute tun es

Seeminen

Foto: Rodolfo Clix

In seinem Hirtenbrief an die irischen Bischöfe (Schande und Reue fühlen „wir alle“ angesichts tausendfachen Kindesmissbrauchs durch die Kirchenvertreter, schreibt der Papst darin) richtet sich Benedikt XVI auch an die Kinder und Jugendlichen in Irland – und verweist unkritisch auf das, was den Kindesmissbrauch unter dem Dach der Kirche so leicht macht.

„Wir sind alle skandalisiert von den Sünden und dem Versagen von einigen Mitgliedern der Kirche, besonders durch die derer, die eigens dazu ausgesucht waren, jungen Menschen zu dienen und sie anzuleiten“, schreibt der Papst – und schiebt damit wieder einmal die Schuld Einzelnen zu, nicht irgendeinem Aspekt des Kirchensystems. Diesen grammatischen Gebrauch des Begriffes „Skandal“ lese ich übrigens hier das erste Mal. Ja, es ist ein Skandal, aber was beschreibt es, wenn man von skandalisierten Personen spricht.

Dann fährt der Papst fort und mahnt unbedingtes Vertrauen an – Vertrauen in Jesus.

„Er liebt Euch und er hat sich am Kreuz für Euch hingegeben. Sucht eine persönliche Beziehung zu ihm in der Gemeinschaft der Kirche, denn er wird nie Euer Vertrauen missbrauchen!“

und:
„…es ist die Kirche, in der Ihr Christus findet, der derselbe ist, gestern, heute und morgen.“

Das ist das Problem. Ganz sicher missbraucht Jesus niemanden (wie sollte er das auch schaffen) – aber er erscheint seinen Anhängern ja durch seine Stellvertreter in DER  Kirche Benedikts.Diesen Jesus-Vertreter auf Erden kommt genau das unbedingte Vertrauen ihrer Opfer zupass, wenn sie sich an Kinder und Jugendliche heran machen.

Der Hirtenbrief im Wortlaut